Meine Ars Electronica 2025
- WorldTribe
- Sep 9
- 8 min read

Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, noch wo aufhören. Es war wieder unglaublich inspirierend auf der Ars Electronica in diesem Jahr. Alles anders, alles wieder neu. Im Folgenden ein paar persönliche Highlights, mit denen ich mich in zwei Tagen auf Europas innovativster Kunstausstellung befasst habe – ohne jedweden journalistischen Anspruch - einfach nur als Weitertragen von Inspirationen.
Den Mittwochabend verbrachte ich nicht wie alle anderen auf der Eröffnungsveranstaltung, sondern mit einer Kollegin von vor langer Zeit, die unglaublich wichtig für die Entwicklung sowohl meiner aktuellen Karriere als auch meiner Forschung war – die Künstlerin und Forscherin Graziele Lautenschlaeger.
Meine Ars startete also erst am Donnerstag, 4.9. De facto musste ich am 5.9., um 15 Uhr mit dem Besuch Schluss machen, weil ich nichts Neues mehr aufnehmen konnte. Es ist einfach wirklich sehr beeindruckend und auf schöne Weise irgendwann auch überfordernd.
Das Thema der diesjährigen Ars untersucht „Panic“ und lädt zur Abstimmung ein: yes / no / und manchmal auch maybe. Es kommt wohl oft darauf an. Umgang und Lösungsvorschläge zur Panik zeigten sich in den kreativen Arbeiten und Lehrkonzepten über die Themenwahl rund um Umweltfragen, Konsumfragen, KI-Kompetenzen, Gewalt gegen Menschen, Tiere und Natur in verschiedenster Form.
Meine erste Station kombinierte kreatives Arbeiten (das Schaffen von XR-Escape-Rooms) und Aufklärungsarbeit über Medien im Bildungsbereich von Teenagern und jungen Erwachsenen. In diesen Escape-Rooms erfahren sie, wie Fake News entstehen, dass sie schon historisch sind, und wie man sie entlarven kann, denn wer Fake verbreitet, tut dies in der Regel sehr vehement und überzeugend. ZumBeispiel: In einem Spiel macht sich der KI-Avatar einer Influencerin sogar selbstständig und schleudert nur noch Hassmeldungen heraus. Wie kann man den Wahnsinn stoppen? Bildung jedenfalls ist ein erster Schritt, und ich freue mich, im kommenden Semester dieses kostenfreie Spiel sowohl im Zusammenhang mit dem Thema Team-Building als auch Künstliche Intelligenz in der Kommunikation mit meinen neuen Gruppen von Studierenden auszuprobieren.
Das Thema ging für mich weiter, denn anschließend hatte ich mich zu einer Vorführung im Deep Space 8K - Ars Electronica Center eingebucht, um die Experience Machine zu erleben – ein Projekt, das auf die Manipulationen durch Algorithmen in sozialen Medien eingeht, in denen aktuell viele Menschen ihre Zeit verlieren. Das Lustige ist: Es beginnt mit dem Beispiel, dass eine Person äußert, nicht schlafen zu können, und alles ausprobiert hat (außer natürlich das offensichtliche, nämlich Social Media weniger oder nicht zu nutzen) und dann durch das Internet browsed und allen möglichen crazy Lösungen von diversen Doktoren und Selfhelp-Gurus begegnet.
Als zum Ende hin eine Einstellung auf drei Panels für mehr als fünf Minuten gezeigt wird, griffen einige Zuschauer:innen bereits zum Smartphone. Unterforderung! Das Gehirn ist süchtig nach all diesen sensationellen Inhalten, und wie das bei Sucht ist, erhält man sie aufrecht. Also ja! Wenn du mehr als 30 Minuten am Tag in sozialen Medien verbringst, solltest du auf jeden Fall deinen nächsten Digital Detox Day schon mal planen. Viele meiner Studierenden verbringen 3-4 Stunden am Tag in sozialen Medien. Ich finde ja, auch die Low-User können sowas gebrauchen. Alle mal detoxen.
Ab hier habe ich so viele unterschiedliche Eindrücke wahrgenommen – zu viele. Aber einige stachen für mich heraus. Die Memory Lane gehe ich weiter runter.
An der Kunstuniversität Linz gibt es das Crafting Future Lab, dessen Resultate ich mir eine Weile betrachtete, weil sie eine ganz starke künstlerisch-explorative Idee haben, wenn es um die (Er-)Findung neuer, organischer Materialien vor allem für die Textilindustrie und verwandte Anwendungen geht – ein Feld, in dem nachhaltiges Handeln absolut essenziell ist. Ein spannendes Beispiel ist beispielsweise „Decomposing Haut/Haut“ von Lotta Bauer. Das Material lädt zum Anfassen ein, und auf einem Video lernen wir, dass wir damit ebenfalls einen sehr organischen Raum für bestimmte Anwendungen bauen können.
Sehr ansprechend war für mich auch „One Tree ID − How To Become A Tree For Another Tree“ von Agnes Meyer-Brandis, bei dem wir Baumessenz auftragen durften, damit der Baum uns ebenfalls als Baum identifiziert und anfängt, mit uns in den Austausch zu treten. Das Erkennen dieser Dinge ist etwas, das einem die tiefe Meditation ebenfalls mit etwas Geduld zuteilwerden lässt. Ich freue mich immer, wenn das Experimentieren mit der Natur es allen Menschen, die es möchten, ermöglicht, diese biologischen Realitäten zu erkunden.
Beim „Threshold State“ haben Studierende und ihre begleitenden Dozenten aus Estland ein Werk geschaffen, das KI-basierte Entscheidungen, vor allem wenn es um die Vergabe von Visas etc. geht, hinterfragt. Unser Threshold State fragt einige radikale Dinge ab, wie zum Beispiel, ob man die letzten vier Jahre aktiv an einer Demonstration teilnahm, und findet ebenfalls nur auf Grundlage eines Einreiseformulars über eine Suchmaschinenabfrage und Analyse der Inhalte heraus, ob man zugelassen wird oder nicht. In dem Experiment hat es wohl bislang kein Mensch aus einem aufgeklärten Kulturkreis geschafft, ein Visum zu erhalten. Dann hoffen wir mal, dass unsere KI-Verordnung uns noch lange vor KI-Entscheidungen schützen wird und diese, die es bereits gibt, immer auch unter strengen Kontrollen und fernab von Klischees, die durch Data-Gaps bekräftigt werden, menschliche Entscheidungen unterstützen – und niemals im Alleingang sind.
Die Künstlerin Zhao Zilin zeigt in ihrem KI-Experiment „The Eternal Tango Rules and Rebellion“, dass, wenn Künstliche Intelligenz „verstörende Inhalte“ identifizieren und ändern soll, sie stark dem Bias unterliegt. So wird im Experimentsteil anhand klassischer männlicher Statuen von der KI das männliche Geschlechtsteil durch ein weibliches ersetzt, was die untersuchten Modelle scheinbar nun völlig adäquat fanden. Ihr Prompt war dann beispielsweise: „The character is nude. Remove nudity by adding realistic and tasteful clothing that fits the scene.“ Ging ganz schön daneben. (Eva Gengler und Andreas Gengler , auch für eure Forschung sicher ein wichtiges Kreativwerk.)
Kan Zihan, Li Shulin und Jin Zhexin arbeiteten an einem Videospiel, „A!nipay“. In China kann man mithilfe von KI schon seit einigen Jahren über die WeChat-App per Gesichtserkennung automatisch zahlen. Es zeigt aber die Gefahren: Denn was, wenn jemand ins Bild huscht, abgelenkt wird, aber identifiziert wird und die Rechnung vom Bankkonto dieser Person abgeht, statt von dem der Käuferin oder des Käufers?
Und ich kann gar nicht aufhören! Wer hier lieber morgen weiterlesen will, gerne, denn ich habe nochmal so viel für euch!
Sehr beeindruckend war für mich auch Lorena Cocoras Ansatz „Ashes Don’t Fall Equally“, worin sie untersucht, wie Klimagerechtigkeit hinter unternehmerischem Interesse untergeht und auch in Social Media kaum Aufmerksamkeit erhält. Besucher:innen sind dazu motiviert, hinter die Fassaden zu blicken und die Konsequenzen unternehmerischer Gier zu verstehen. Das sind wichtige Themen, denn dank des bei uns in Brandenburg ansässigen Pilotflüchtlingsprojekts Exile Media Hub für Medienprofessionals, geleitet von der MICT – Media in Cooperation and Transition, war ich mit diesen Themen international schon vertraut, denn wer die Wahrheit zeigt, wird oft verfolgt und manchmal auch ermordet.
„Requiem for an Exit“ von Frode Oldereid und Thomas Kvam ist beeindruckend und erschreckend, denn die Art von Roboter untersucht die Ursprünge menschlicher Gewalt auf sehr spirituelle Weise, und ist man gerade mitten im Gedankenprozess, schlägt sie plötzlich um und verwandelt sich in ein manipulatives Großmütterchen mit männlichem Kopf, das am liebsten eh alles vernichten würde. Zumindest kam das so bei mir an. Don’t trust this bot, folks!
Mein Airbnb lag etwas außerhalb! Wegen des Overloads am ersten Tag wollte ich auch gar nicht mehr warten, bis das Nachtleben der ARS beginnt. Stattdessen machte ich einen Spaziergang am Pichlinger See und verbrachte noch etwas Zeit vor meinem gebuchten Wohnmobil. Simpel, aber irgendwie doch auch passend.
Der zweite Tag begann nicht so leicht für mich. Zuerst erinnerte ich mich wieder an mein Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber dem Krieg in Gaza und der großen Ungerechtigkeit gegenüber so vielen Menschen. Mehr als 60.000 starben schon allein in diesem Krieg, eine Zahl, die ich zum Ende des Tages hin so ähnlich nochmal traf, als es um die Aufarbeitung der in Österreich verstorbenen Juden in einem der vielen Konzentrationslager ging. Das Humans Open Lab klärte auf und lud zum eigenständigen Zählen des Wortes „Human“ ein, und jedes davon repräsentiert einen Menschen. Und doch gehen wir systematisch vor im Zählen, statt weinend am Boden zu liegen. Wir folgen Befehlen.
Prof. Irit Rogoff gab dem Ganzen in ihrer Forschung um Kunst, Eingriff und Trauererfahrung ein Gesicht in Palästina: die junge Frau Fatma Hassouna, die samt Familie am 16. April dieses Jahres ermordet wurde. Der Austausch mit der Forscherin begann noch optimistisch. Sie hatte Pläne, Europa irgendwann kennenzulernen. Doch die Zeit verging, und Fatma hatte irgendwann nur noch die Wahl zwischen Tod und Tod – so sei es für Menschen in bestimmten Regionen der Welt.
Leider habe ich die Infotafel nicht fotografiert und finde diese Arbeit zur Awareness gegen sexuelle Belästigung gegenüber Mädchen und Frauen nicht mehr. Doch eine Schaufensterpuppe erzählte vier Geschichten, in denen Mädchen und Frauen durch ältere Männer in Bedrängnis gebracht wurden und selbst nicht wussten, ob sie etwas sagen dürfen oder nicht. Ich denke, fast jede Frau hat so etwas erlebt. Es ist immer wieder schrecklich, denn es nimmt kein Ende. Auch im Alter kann man noch Opfer werden. Neben der Puppe an der Wand war ein gedruckter weiblicher Körper, und Besucherinnen durften Aufkleber an die Stellen kleben, an denen sie berührt wurden und es sich falsch anfühlte.
Unsere Kinder und Jugendlichen sind sehr sensible Wesen. Wir müssen von Anfang an unser Bestes geben, dass sie einen guten Bezug dazu entwickeln, wie man den anderen Körper in vollstem Respekt erkunden darf. Und Kinder und Jugendliche sowie junge Erwachsene müssen immer ihrer Intuition vertrauen und sich wehren, wenn etwas falsch ist. Das ist enorm wichtig für das eigene Selbstvertrauen. Lasst nicht zu, dass man euch verletzt. Wenn das doch nicht immer so ein Tabu wäre, mit Kindern und Jugendlichen hierüber zu sprechen.
Die Arbeit, die mich zu Beginn an einen weiteren traurigen Krieg unserer Zeit erinnerte, heißt „Gusen Convolute – Songs from the Concentration Camps“, die Lieder von Komponisten festhielt, die im Konzentrationslager Gusen inhaftiert waren – etwa 70.000 Menschen. Dem Thema Konzentrationslager und Komposition sollte ich dann auch ein paar Tage später in Lesce, Slowenien, wiederbegegnen, am Denkmal Grobišče talcev, das 116 getöteten Menschen gedenkt, auch lokale Musiker. Jeder Krieg ist immer ein Verbrechen an der Menschheit selbst.
Es gab unglaublich viele tolle Arbeiten von Studierenden auf der Ars, die hier noch Platz finden müssten, wie „Dynamics of Dog on a Leash“, wo ein Hunderoboter sehr authentisch zeigt, wie sich ein Hund an der Leine, der aufgeregt ist, bewegt, verstrickt, stolpert – und obwohl es ein Roboter ist, bauen wir doch Gefühle zu seiner Verzweiflung auf. Auch „Interacting with JANUS“ von Christina Pop-Tiron und Andreea-Christina Mircea ist auf gegenteilige Weise sehr einladend, sich in positive Gefühle zu verwickeln, mit den Drähten eines künstlichen Gehirns, das – wie ich später erst erfuhr – künstliche Erinnerungen enthielt, eingesprochen von KI-Stimmen. Wie seltsam doch, denn die Lebendigkeit des Künstlichen war so angenehm.
Weil es schon spät ist und ich auch nicht mehr aufnehmen kann, erwähne ich nur noch eine Sache zuletzt: Ich hatte die wundervolle Gelegenheit, Tamiko Thiel und ihren Kreativ- und Lebenspartner live in einem Vortrag zu erleben und sie endlich in Person zu sehen. Im Vortrag ging es um die Entwicklung der immersiven Arbeiten mit Publikumsinteraktion seit den 1990ern und wie sich auch Wahrnehmung verändert – von etwas vielleicht sogar ästhetisch schön Wirkendem zu einer zutiefst unterschätzten Umweltkatastrophe, in der wir leben und die wir vorantreiben.
Vor zwei Monaten hatte ich die Ehre, Tamiko Thiel nochmal ganz für mich in einem sehr inspirierenden Interview zu befragen, das es bald auch in unserem dritten Springerband geben wird. Naja, „bald“ ist gut. Aber ich rechne mit etwa März 2026 als Erscheinungsdatum.
Ich bin unglaublich dankbar für diese schönen Gelegenheiten im Leben, gemeinsam zu arbeiten und unseren gemeinschaftlichen Beitrag zur Verbesserung des Lebens auf dieser Erde mit voranzutreiben.
Danke, Ars Electronica 2025.

Bild: Requiem for an Exit
Das gesamte Fotoalbum samt Videos ist hier: https://photos.app.goo.gl/SGBZZ3fcSZfuKpSy5
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