top of page
Writer's pictureWorldTribe

Ich habe in meinem ganzen Leben noch kein Buch gelesen

Von Kristina


Im ICE riecht es nach Kaffee, und das ist verführerisch, da ich mir gerade diese Woche eine Kaffee-Restriktion auferlegt habe. Wir sollten uns immer wieder Phasen gönnen, in denen wir nur Wasser und/oder Tee trinken, um den Körper zu entlasten.

Das obige Zitat mag einige Leser:innen hier überraschen. Es stammt von einer der klügsten Personen, die ich je getroffen habe – meiner guten Freundin Joelma. Ich lernte Joelma vor zweieinhalb Jahren kennen, als sie durch ihre Ausstrahlung einen wirklich schlecht organisierten Retreat rettete, der von einem sehr verantwortungslosen Mann geführt wurde (mittlerweile zum Glück bankrott gegangen). 



Dieses Jahr trafen wir uns wieder, als ich sie in São Paulo in ihrem Secondhand-Bekleidungsgeschäft besuchte. Einige Tage später holte ich sie ab, und wir reisten nach Ubatuba, wo ich für meine Freundinnen einen Austausch-Retreat organisiert hatte. Es kam aber nur noch eine Freundin hinzu, Miss S. Die anderen waren wegen Arbeit und anderen Dingen verhindert. Aber drei ist eine gute Zahl und die Inhalte waren bereichernd. Zwischen uns drei Frauen lagen jeweils etwa fünf bis sechs Jahre Altersunterschied, was an sich keine Rolle spielen muss, aber in unserem Fall eine besondere Dynamik durch minimal unterschiedliche Reifegrade herstellte.


Im Austausch-Retreat lernten wir auf Augenhöhe voneinander. Joelma, die reflektierteste unter uns, konnte uns viel Orientierung auf unseren inneren Reisen geben. Gleichzeitig brachte auch die jüngere Miss S. beeindruckende Erfahrungen mit, die uns „ältere Damen“ bereicherten. Das obige Zitat im Titel fiel, als Miss S. uns fragte, ob wir je etwas von der Autorin X gelesen hätten. Joelma sagte daraufhin: „Ich habe in meinem ganzen Leben noch kein Buch gelesen!“ Joelma wuchs in einer überbehütenden Familie auf, die großen Wert auf Regeln und guten Umgang legte, jedoch in ihren Mitteln begrenzt war. Sie erhielt die bestmögliche Bildung, die ihrer Familie zur Verfügung stand. 



Ich möchte jedoch gar nicht traurig darüber sein, dass Joelma noch nie ein Buch gelesen hat, sondern es als bemerkenswert herausstellen. Auf dieser Reise habe ich zumindest noch eine weitere extrem kluge und großherzige Person getroffen, der es ähnlich ging. Das zeigt uns, dass es letztlich unsere eigene Lebensentscheidung, unsere Reflexion und unser Mut sind, die einen inneren Entwicklungsprozess anstoßen und zu wahrem Reichtum an Wissen führen. So können wir immer klarer hinter die Kulissen des gesellschaftlichen Theaters unserer jeweiligen Situationen blicken. Diese Haltung der eigenen Steuerung erinnert mich auch an J. Krishnamurtis Überzeugung, dass wir weder religiösen, politischen noch anderen Lebensdoktrinen folgen sollten, um die großen Fragen unseres Lebens zu beantworten – etwa die Frage, mit der sich viele quälen: Gibt es einen Gott?


Joelma hat ihr Leben in den letzten Jahren radikal in die richtige Richtung gelenkt und sich von vielem getrennt, das sie daran hinderte, sich weiterzuentwickeln. Sie ist eine der klügsten, reflektiertesten, einfühlsamsten und mutigsten Menschen, die ich kenne. Das muss ich an dieser Stelle nochmal sagen, denn ich habe tausende von Menschen in meinem Leben auf diesem weiten Globus kennengelernt. Andere Menschen aus ihrem Viertel sagen oft über sie: „Die ist verrückt geworden! Sie hatte ein sehr gut laufendes Friseurgeschäft, Mann, drei Kinder, alles .. und eines Tages schickte sie alle Angestellten fort. Jetzt hat sie diesen Secondhand-Laden.“ Doch es kümmert sie nicht, dass viele Menschen nicht verstehen, was wirklich vor sich geht.



Joelma verließ in Wahrheit eine unglückliche Ehe, in der sie sich unterdrücken ließ und von negativen Energien gesteuert wurde. Diese Ehe und ihr Leben als Mutter erfüllten sie in dieser Konstellation nicht. Auch ihr erfolgreiches Friseurgeschäft machte sie nicht glücklich, da es auf gesellschaftlichen Schönheitsidealen basierte. Die Arbeit mit Chemikalien, die Frauen regelmäßig auf ihre Körper ließen, widersprach ihrer inneren Überzeugung.


Trotz der Herausforderungen hat Joelma es geschafft, ihrer Vergangenheit zu vergeben – sich selbst und anderen. Zwar dauert es noch, bis die Wunden ihrer Ehe ganz verheilt sind, da ihr ehemaliger Partner weiterhin über die Kinder versucht, Kontrolle auszuüben. Doch sie ist zuversichtlich, dass ihre Kinder rechtzeitig einen gesunden Weg für sich finden und ihr Leben verantwortungsvoll gestalten werden.


Durch tiefe Reflexion hat Joelma ihren Weg gefunden. Ihr Secondhand-Laden ist für sie eine Möglichkeit, die Welt ein Stück besser zu machen. Sie sieht darin auch eine Antwort auf die Probleme von Überkonsum und Kaufsucht. Bevor ich Brasilien verließ, haben Jo und ich uns darauf geeinigt, dass sie regelmäßig Kinderkleidung und Bücher in das indigene Dorf schicken würde, das ich zuvor besucht hatte. Was in der Stadt zu viel ist, kann anderswo dringend gebraucht werden – eine Ironie, wenn man an die Umweltbelastung durch Fast-Fashion-Konzepte und die Kleiderberge in Chile denkt, die aus absichtlich zerstörten Kleidungsstücken bestehen, die nicht in der jeweiligen Saison verkauft wurden.


Während wir heute vielleicht keine globalen Probleme lösen können, können wir zumindest in uns selbst einkehren und unsere eigenen Themen reflektieren – so wie meine gute Freundin Joelma. Meditation, Kontemplation und Momente der Ruhe sind essenziell, um selbst zu erkennen, was wir allein im Moment wirklich braucht. Und dann: ran an die Arbeit! 

Für manche gibt es sicher auch Inspiration aus Büchern, aber unterschätzt niemals eure eigene Kraft der Regeneration. Findet euren ganz eigenen Weg – mit oder ohne Bücher, so wie Joelma.


1 view0 comments

Comments


bottom of page